Liebe Leserin, lieber Leser,zum Auftakt des ersten Strafprozesses gegen Donald Trump haben die Meinungsforscher hingelangt. Sie fanden heraus, dass nur ein Drittel der Bevölkerung der Meinung ist, dass der Ex-Präsident bei der Schweigegeld-Affäre um den Porno-Star Stormy Daniels gegen Recht und Gesetz verstoßen habe und verurteilt gehöre. Eine große Anzahl vor allem republikanischer Wähler sieht ihr Idol ungerecht behandelt und als Opfer einer politisch motivierten Strafaktion.
An dem spezifischen Meinungsbild kann man ablesen, wie wirkungsvoll Trumps Tag für Tag zu hörender Sermon von der angeblichen Dauer-Hetzjagd ist, den die Demokraten um Präsident Joe Biden gegen ihn losgetreten hätten. Dass eine unabhängige Geschworenen-Jury die Anklage von Staatsanwalt Alvin Bragg für stichhaltig erklärte, was den laufenden Prozess erst ermöglicht hat, lässt Trump geflissentlich weg.
Aber es gibt gewichtige Unterschiede. Der Schweigegeld-Fall wird von allen vier großen Strafverfahren, von denen drei mit unabsehbarem Ausgang in der Schwebe hängen, in der Bevölkerung als das juristische „Leichtgewicht” betrachtet.
Im Umkehrschluss halten rund 60 Prozent der Amerikaner Trump legitimerweise vor den Richter zitiert, wenn es um den Versuch geht, das Wahlergebnis von 2020 nachträglich zu kippen oder hochbrisante Staatsgeheimnisse einfach für sich zu behalten.
Hier bleibt festzustellen, dass die Mehrheit der Amerikaner Trumps Dauerklage vom „deep state”, der ihn angeblich vor der Wahl im kommenden November aus dem Verkehr ziehen und einsperren wolle, einfach nicht abkauft. Nur eine Minderheit sieht Trump massiv unfair behandelt.
Trotz der Skepsis über die juristische Schwere des Schweigegeld-Falles sagen aber mehr als 50 Prozent der Amerikaner, dass der 77-Jährige im November nicht mehr wirklich wählbar ist, wenn er über die Affäre mit Stormy Daniels und den damit mutmaßlich verbundenen Verstoß gegen Wahlkampfspendengesetze stolpert - sprich: verurteilt wird.
Wie passt das zusammen? Vielleicht so: Das Gros der Amerikaner verfolgt die seit Jahren andauernden Scharmützel der Kategorie „Donald Trump gegen den Rest der Welt” gar nicht mehr.
Studien belegen, dass mehr als 80 Prozent der Amerikaner das politische Tagesgeschehen in Washington zwischen Kongress, Weißem Haus und Supreme Court kaum oder gar nicht mehr beachten. Den Beleg dafür finden Reporter aus der Hauptstadt, wenn sie draußen im Lande abfragen, wie die Amerikaner zur jüngsten Skandal-Äußerung von X über Y steht – und ob das gegebenenfalls die Wahlentscheidung im November beeinflussen könnte. Oft ist Achselzucken die Antwort: „Ist das denn wichtig? Noch nie was davon gehört.” Jim VandeHei und Mike Allen, die Gründerväter von Medienmaschinen wie „Politico” und „Axios”, haben erst gerade daran wieder erinnert, dass die überwältigende Mehrheit der Amerikaner noch nie getwittert hat. Und dass sich weniger als zwei Prozent werktags abends die Welt von Rechts-Fernsehen (Fox News) und Links-Fernsehen (MSNBC) erklären lassen.
Soll heißen: Das Bild, das auch in Europa über „die Amerikaner” vermittelt wird, ist einigermaßen schief. Es ist in der Regel getrieben von radikalen Stimmen an den politischen Rändern, die sich – ob Republikaner oder Demokrat – konstant schrill und überdreht zum Tagesgeschehen äußern. Der angebliche Dauer-Kampf Gut gegen Böse, Fortschritt gegen Mittelalter, Land gegen Großstadt, Moderat gegen Extrem, findet im gewöhnlichen amerikanischen Alltag nicht statt.
Die schweigende Mehrheit überlässt einer radikalen Polit-Junkie-Minderheit, die auf X, Facebook, Reddit, Rumble, Truth Social und andern Portalen mittlerweile in Echtzeit das Geschehen meist missgünstig und destruktiv kommentiert, die Deutungshoheit.
Wenn man sich vor Augen führt, dass auf X (dem durch Elon Musk ins widerwärtig Verschwörerische und Dumme abgedrifteten ehemaligen Twitter) zehn Prozent der Nutzer für über 97 Prozent der politischen Tweets verantwortlich sind, kann man sich ausmalen, wie unrepräsentativ die dort abgebildete Meinungsbildung ist.
Das Bild, das hier erzeugt wird, sieht so aus: Hard-Core-Republikaner und Make-America-Great-Again-Infizierte erwarten das große Erwachen ihrer Landsleute über den angeblichen Totalversager Joe Biden. Eingefleischte Demokraten stellen vor dem Zubettgehen eine Kerze auf und beten, dass endlich die historisch beispiellose Scharlatanerie Donald Trumps erkannt und mit einer dauerhaft Roten Karte geahndet wird. Zwischen diesen Polen hält sich der große Teil Amerikas aus Überdruss die Ohren zu, um nicht täglich von den negativen „vibes" aus Washington heruntergezogen zu werden.
Ihr Dirk Hautkapp
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